Vorwärts in Richtung Stadtleben, sitzend im Rücksitz eines Autos, während der Fahrt durch einen Tunnel | © Cognizant Mobility
14.12.2020

So wirkt sich Corona auf die Mobilitätswende aus!

5 Fragen an Carlo Ratti - Architekt, Stadtplaner und Direktor des Senseable Lab am Massachusetts Institute of Technology (MIT).

Ein Beitrag der Messe Frankfurt GmbH

Seit dem Corona-Lockdown haben insbesondere der öffentliche Verkehr und Sharing-Dienste Benutzer verloren, gleichzeitig feiert der Pkw seine Rückkehr auf die städtischen Straßen. Wie die Mobilitätswende dennoch gelingen kann, erzählt Carlo Ratti, Architekt, Stadtplaner und Direktor des Senseable Lab am Massachusetts Institute of Technology (MIT), im Interview.

Während des Corona-Lockdowns waren die Straßen fast leer, Menschen gingen stattdessen zu Fuß oder nahmen das Fahrrad, die Luftverschmutzung nahm drastisch ab. Insbesondere viele Städter haben das sehr geschätzt. Was macht diese Erfahrung mit den Menschen?

„Lassen Sie niemals eine Krise ungenutzt zu Ende gehen“, sagte der ehemalige Bürgermeister von Chicago, Rahm Emanuel, einmal. Was haben wir bisher aus der Pandemie gelernt? Ich würde sagen: Eine wichtige Lehre besteht darin, dass wir bei städtischen Innovationen mutiger sein können, zum Beispiel bei der Frage, wie wir unsere Städte neu programmieren. Ich bin mir nicht sicher, ob all die Begleiterscheinungen, wie weniger Verkehr in Städten, die wir während des Lockdowns geschätzt haben, langfristig bleiben, aber ich hoffe, dass unsere Bereitschaft, mehr zu experimentieren, nicht nachlässt.

Shared-Mobility-Dienste und der öffentliche Verkehr haben Benutzer verloren – gleichzeitig feierte der private Pkw ein Comeback. Verlangsamt Corona die Mobilitätswende oder wird sie sogar noch beschleunigt?

Es wird eine Übergangsphase geben, in der wir mit dem Virus koexistieren müssen. Während dieser Zeit könnten Sharing-Dienste und der öffentliche Verkehr weiter darunter leiden. Aber irgendwann, und hoffentlich bald, werden wir das Virus überwinden, und die Nähe zwischen Menschen wird kein Problem mehr sein.

Ich bin optimistisch, dass die langfristigen Auswirkungen des Coronavirus die Einführung nachhaltigerer Mobilitätsmuster, die in den letzten Jahren entstanden sind, beschleunigen können. Viele Städte und Kommunen auf der ganzen Welt sind zu dem Schluss gekommen, dass ein Mobilitätssystem, das stark auf Privatwagen angewiesen ist, sozial und ökologisch unhaltbar ist – ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die Luftverschmutzung einer der Faktoren gewesen zu sein scheint, die die Sterblichkeit während des Ausbruchs von Covid-19 erhöht haben.

Mailand, eine der ersten großen europäischen Städte, die schwer vom Ausbruch des Virus betroffen waren, hat etwa begonnen, Pläne zur Verbreiterung der Radwege und zur Einführung einer niedrigeren Geschwindigkeitsbegrenzung umzusetzen. Während die Entwicklung noch einige Zeit in Anspruch nehmen könnte, werden solche Maßnahmen sicherlich zu gesunden Gesprächen über die Stadt von morgen führen.

Die Straßen sind inzwischen wieder voll, aber Sharing-Dienste und öffentliche Verkehrsmittel, die angeblich zu wenig Abstand zu anderen bieten, haben immer noch weniger Passagiere als zuvor. Wie können sie wieder attraktiver werden?

Wie bereits gesagt, brauchen wir in dieser Zeit, in der wir mit dem Virus koexistieren, Social Distancing, und es gibt keine einfachen Möglichkeiten, dies mit dem öffentlichen Nahverkehr zu erreichen. Dies gilt aber nicht für die Mikromobilität wie geteilte E-Scooter oder Fahrräder, was einen wesentlichen Vorteil bietet: Mikromobilität ermöglicht es den Menschen, enge Kontakte mit Fremden zu vermeiden, und ist gleichzeitig viel nachhaltiger als ein privates Auto. Das Risiko beim Teilen von Fahrzeugen kann leicht mit Handschuhen oder einem Desinfektionsmittel verringert werden.

Das Homeoffice hat sich seit dem Ausbruch von Covid-19 in vielen Unternehmen auf der ganzen Welt etabliert. Welche Bedeutung hat Remote Work für die Mobilität?

In den 1970er-Jahren sagte der US-amerikanische Städtetheoretiker Melvin Webber voraus, dass „es zum ersten Mal in der Geschichte möglich sein könnte, von einem Berggipfel aus einen engen und realitätsnahen Kontakt in Echtzeit zu Unternehmen, Geschäftspartnern und Kollegen aufrechtzuerhalten“. Ist sein Traum wahr geworden? Werden wir alle remote arbeiten, wie von Twitter-CEO Jack Dorsey vorgeschlagen? Ich glaube nicht. Der physische, gemeinschaftliche Arbeitsplatz bietet nach wie vor einen entscheidenden Vorteil: Er führt uns zu neuen Verbindungen und Möglichkeiten im Job und setzt uns vor allem neuen Gedanken und Ideen aus, was Soziologen als „schwache Bindungen“ bezeichnen.

Dennoch könnten einige „schlechte Gewohnheiten“ womöglich verschwinden. Wie viele andere war ich in der Vergangenheit manchmal gezwungen, von New York nach Singapur oder Hongkong zu fliegen, dort ein paar Stunden für ein Geschäftstreffen zu verbringen und zurückzufliegen. Das ist natürlich überhaupt nicht gesund – weder für die Umwelt noch für das Wohlbefinden eines Menschen. Ich hoffe, dass in einigen Monaten das neu gewonnene Vertrauen in virtuelle Kanäle das Ende von solchen Reisen bedeuten wird.

Was müssen wir jetzt tun, um die Corona-Erfahrung zu nutzen und Verkehr und Mobilität, insbesondere in unseren Städten, langfristig zu verändern?

Ich glaube, wir müssen das Gespräch offen halten und unsere Städte weiterhin zum Experimentieren bringen. Wir sehen erste Einblicke in neue Mobilitätssysteme – basierend auf Autonomie, Sharing, Multimodalität, neuen Fahrzeugformen und digitalen Echtzeitplattformen. Als Bürger und öffentliche Verwalter müssen wir die Entwicklung gesunder Innovationszyklen ermöglichen, um unsere Städte in die Zukunft zu führen.

Über Carlo Ratti

Carlo Ratti ist Architekt, Ingenieur und Gründer des Architekturbüros Carlo Ratti Associati sowie Direktor des Senseable Lab am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Dort untersucht er unter Verwendung neuartiger Sensoren und Elektronik die Interaktion zwischen Menschen, Technologien und Städten mit einem multidisziplinären Ansatz. Er hält mehrere Patente, hat zahlreiche Publikationen verfasst, seine Arbeiten wurden weltweit ausgestellt – und er gilt als einer der innovativsten und einflussreichsten Designer. Derzeit ist Carlo Ratti Co-Vorsitzender des Global Future Council on Cities and Urbanization des Weltwirtschaftsforums und Sonderberater für Stadtinnovationen des Präsidenten und der Kommissare der Europäischen Kommission.

Dieses Interview wurde für den Bereich Mobility & Logisitcs der Messe Frankfurt geführt.